Dr. Thomas Altenbach im Interview zu Whistleblowing und Hinweisgeberschutz
Was ist ein Hinweisgebersystem?
2019 haben Sie in Frankfurt gemeinsam mit Maraja Fistanic und Pia Michel das Unternehmen LegalTegrity gegründet und bieten ein digitales Hinweisgebersystem für den Mittelstand an. Können Sie uns erklären: was ist ein Hinweisgebersystem und wozu dient es?
Dr. Thomas Altenbach: Hinweisgebersysteme geben Mitarbeitern* die Möglichkeit, anonym zu melden, wenn sie im Unternehmen einen Verstoß gegen Gesetze oder Vorschriften beobachtet haben. Diese Meldungen können schriftlich oder telefonisch erfolgen. Die Person entscheidet, ob sie anonym bleiben möchte.
Was heißt das konkret? In vielen Branchen gibt es strenge Qualitätsanforderungen und Verstöße gegen ebendiese haben weitreichende Konsequenzen: denken Sie beispielsweise an die Lebensmittel-, Chemie- oder Medizintechnik. Schon geringste Abweichungen können tödlich sein. Aber auch in anderen Industrien können Fehlverhalten zu großen Schadensersatzforderungen, Rückrufaktionen oder Skandalen führen. In der Automobilbranche ist der Dieselskandal sicherlich einer der bekanntesten Verstöße.
Es geht aber nicht nur um Verstöße „im großen Stil“. Andere Gesetzesverstöße können durchaus häufiger vorkommen, wie beispielsweise Preisabsprachen, unangemessene Geschenke und Einladungen oder auch Verstöße in Bezug auf interne Compliance-Regeln. Ein Hinweisgebersystem dient dazu, solches Fehlverhalten frühzeitig zu erkennen und gegensteuernde Maßnahmen zu ergreifen, bevor es zu negativen Konsequenzen kommt: also zu wirtschaftlichen Schäden und der Rufschädigung des Unternehmens.
Vorteile eines Hinweisgebersystems - mehr als "nur" Hinweisgeberschutz
Warum sollte ich in meinem Unternehmen ein Hinweisgebersystem einführen?
Dr. Thomas Altenbach: Sie sollten ein Hinweisgebersystem in Ihrem Unternehmen einführen, wenn Sie das Risiko reduzieren möchten, dass eine unabsichtliche Nachlässigkeit oder vorsätzliches Fehlverhalten Ihren guten Ruf und das Vertrauen gefährdet. Der Aufbau dieses Rufs im Markt und dieses Vertrauens Ihrer Kunden haben Sie sich jahre- oder sogar jahrzehntelang aufgebaut. Doch ein einziger Skandal kann gerade in mittelständischen Unternehmen ausreichen, um die Existenz zu gefährden. Wer darauf vertraut, dass es immer nur die anderen trifft, verschließt die Augen vor einer realen Gefahr – das fühlt sich an, wie russisches Roulette!
Ich war in mehreren Unternehmen für die Betreuung von Hinweisgebersystemen zuständig und kann Ihnen aus Erfahrung sagen: in meiner Karriere gab es einige Hinweise, bei denen das Unternehmen froh war, über den internen Meldekanal von den Gesetzesverstößen zu erfahren. Der Weg über die Presse wäre eine Katastrophe gewesen.
Inzwischen gibt es neben dieser Funktion als Frühwarnsystem einen weiteren triftigen Grund, warum Sie in Ihrem Unternehmen ein Hinweisgebersystem einführen sollten. Die Whistleblower-Richtlinie verpflichtet alle Unternehmen ab 50 Mitarbeitern und öffentliche Behörden entsprechende Meldekanäle anzubieten.
Ich höre immer wieder, dass dies eine lästige Pflicht sei. Aufgrund meiner Erfahrung sehe ich das anders: Dieser Handlungsbedarf ist für die Unternehmen und Behörden eine großartige Chance. Missstände können frühzeitig entdeckt werden und in vielen erfolgreichen Unternehmen leistet ein Hinweisgebersystem einen wichtigen Beitrag zur Prävention.
Denn die Realität ist: die meisten Menschen zögern, auf einen Missstand oder Fehlverhalten von Kollegen oder Vorgesetzten hinzuweisen, weil sie Angst vor persönlichen Konsequenzen haben und damit möglicherweise ihre eigene Existenz riskieren. Hinweisgeben ist ein höchst emotionales Thema. Umso wichtiger ist der Hinweisgeberschutz: Mithilfe von Hinweisgebersystemen geben Unternehmen ihren ehrlichen und loyalen Mitarbeitern eine Stimme. Insbesondere dann, wenn eine konsequent anonyme Kommunikation zwischen Hinweisgebern* und -empfängern* ermöglicht wird.
Die negative Konnotation des Whistleblowings
Man sagt, die Welt liebt den Verrat, aber nicht den Verräter*. Ähnlich verhält es sich mit Whistleblowern*. Wir alle sind fasziniert von dem Mut eines Edward Snowden oder eines Julian Assange. Trotzdem hat Whistleblowing bei uns eher eine negative Konnotation. Woran liegt das?
Dr. Thomas Altenbach: Snowden und Assange haben der Öffentlichkeit Staatsgeheimnisse preisgegeben. Dies ist per se erst einmal abzulehnen, auch wenn es für die Gesellschaft von großem Interesse war, dass diese offengelegt wurden. Aufgrund unserer Geschichte ist zudem insbesondere in Deutschland Verrat sehr negativ besetzt. Kinder werden für „Verpetzen“ gerügt und lernen früh, dass man das nicht macht. Selbst verpetzt werden, möchte natürlich niemand gerne.
Das Ergebnis der negativen Konnotation sind sowohl Zweifel seitens der Mitarbeiter als auch des Unternehmens gegenüber dem Hinweisgeben an sich. Doch diese Assoziation mit „Whistleblowing“ ist meines Erachtens falsch: Mit unternehmensinternen Hinweisgebersystemen können Unternehmen vermeiden, dass vertrauliche Informationen an die Öffentlichkeit kommen. Sie können das gemeldete Problem direkt in Angriff nehmen und beheben. Die EU-Richtlinie gewährt jenem Hinweisgeber – auch „Whistleblower“ genannt – Schutz, der zuerst die vom Unternehmen zur Verfügung gestellten internen Kanäle nutzt. Wenn Ihr Unternehmen ein Hinweisgebersystem hat, aber nicht innerhalb der vorgegebenen Fristen reagiert, kann sich der Hinweisgeber – straffrei – an die Behörden oder die Öffentlichkeit wenden. Das gleiche gilt für den Fall, wenn Ihr Unternehmen keinen Meldekanal zur Verfügung stellt: Dann greift bei einer Meldung an die Behörde oder die Zeitung mit 4 Buchstaben auch der Hinweis auf Vertraulichkeit oder Betriebsgeheimnisse nicht.
Die Richtlinie geht also einen Schritt weiter, als nur zur Einrichtung eines Meldekanal zu verpflichten: es schreibt Ihrem Unternehmen Fristen vor, innerhalb derer Sie dem Hinweisgeber den Eingang seines Hinweises bestätigen sowie Informationen über getätigte Maßnahmen und Untersuchungsergebnisse übermitteln müssen.
Whistleblowing als Akt der Loyalität
Sind Hinweisgeber eine Gefahr für mein Unternehmen?
Dr. Thomas Altenbach: Unternehmen erwarten von ihren Mitarbeitern vertrauensvolle Zusammenarbeit und Loyalität. Versteht man unter Hinweisgeben die Loyalität zum Unternehmen, zum Vorgesetzten oder zu Kollegen?
Am besten lässt sich die Frage beantworten, in dem Sie sich in die Lage eines Arztes versetzen, der feststellt, dass in seiner Klinik, vielleicht sogar von seinem Chef, illegale Sterbehilfe geleistet wird. Oder in die eines Beamten, der bemerkt, dass in seiner Behörde massiv gegen das Vergaberecht verstoßen wird und Kollegen* dafür Schmiergelder beziehen. Oder in die eines Mitarbeiters, der beobachtet, dass abgelaufene Lebensmittel neu verpackt und etikettiert werden.
Vielleicht haben Sie mit dem Kollegen sehr gut zusammengearbeitet, gingen öfter gemeinsam in die Mittagspause und trafen sich auch am Feierabend mal auf ein Glas Wein. Sie kennen die Familie, die Lebensumstände, wissen, dass die Kinder in der Ausbildung sind oder ein Elternteil betreut werden muss.
Sie wissen, dass ihre Meldung des gravierenden Gesetzesverstoßes zu einer Abmahnung, Kündigung, vielleicht zu strafrechtlichen Konsequenzen für Chef* oder Kollegen führen könnte. Sie überlegen, wie ihre anderen Kollegen darauf reagieren werden, wenn bekannt wird, dass Sie das Verhalten gemeldet haben. Würden sie noch mit Ihnen arbeiten wollen oder würden Sie von ihnen gemieden werden? Wie würden Sie sich verhalten?
Die meisten Mitarbeiter* entscheiden sich zu schweigen. Die Angst vor Konsequenzen lässt sie die Loyalität zu Kollegen und Vorgesetzten* höher werten als die Loyalität zu ihrem Unternehmen. Hat Ihr Unternehmen jedoch ein Hinweisgebersystem, das anonymes Melden ermöglicht und die Identität des Hinweisgebers schützt, sinkt für die Person das persönliche Risiko. Die Hemmschwelle, eine Meldung abzugeben, reduziert sich. Die Loyalität zum Unternehmen, der damit einhergehende Schutz des Unternehmens und die somit langfristige Sicherung des eigenen Arbeitsplatzes kann wieder an erster Stelle stehen – ohne Risiko.
Die EU-Richtlinie zum Schutz von Whistleblowern
Wen soll die EU-Whistleblower-Richtlinie schützen und warum?
Dr. Thomas Altenbach: Die EU-Whistleblower-Richtlinie soll mittelständische Unternehmen und Hinweisgeber in gleichem Maße schützen.
Das EU-Parlament und die EU-Kommission wollten die positiven Erfahrungen von Großunternehmen mit Whistleblower-Systemen auch für mittelständische Unternehmen nutzbar machen bei der Vermeidung von Skandalen in der Öffentlichkeit. Die Hinweisgeber sollen vor jeglichen negativen Konsequenzen geschützt werden wie beispielsweise Mobbing, Belästigung, Abmahnung bis hin zur Kündigung. Der Hinweisgeberschutz hat jedoch noch mehr Vorteile: er wird automatisch auch für das Unternehmen oder die Behörde zum Schutzschild. Schätzungsweise büßen deutsche Unternehmen Jahr für Jahr fünf Prozent der Einnahmen durch Straftaten im Wirtschaftsbereich ein. Das kann sich bei einem mittelständischen Unternehmen schnell zu einem sechsstelligen Betrag addieren, bei großen Unternehmen klettert die Summe in die Millionenhöhe.
Ich erinnere mich an einen Fall eines ehemaligen Mandanten, bei dem signifikante Arbeitszeitverstöße ans Licht kamen. Es handelte sich dabei um einen Standort, der mehrere 100 km von der Zentrale entfernt war. Dadurch bekam in der Zentrale niemand mit, dass die Mitarbeiter an dem Standort gezwungen wurden, viel zu lange und ohne entsprechende Ruhepausen zu arbeiten. Als das bei einer Kontrolle der Gewerbeaufsicht entdeckt wurde, musste das Unternehmen ein sechsstelliges Bußgeld zahlen. Durch ein anonymes Hinweisgebersystem hätte der Schaden womöglich vollständig verhindert werden können.
Der Umgang mit Hinweisgebern
Dr. Altenbach, Sie sind Jurist und waren bei den Big Playern Deutsche Bank und Daimler AG innerhalb deren Rechtsabteilungen am Ausbau der Compliance-Systeme beteiligt. Jeweils in einer Zeit, in der beide Konzerne durch Skandale in der öffentlichen Kritik standen. Wie haben Sie den Umgang mit Hinweisgebern und Hinweisgeberinnen dort erlebt?
Dr. Thomas Altenbach: Das wurde unterschiedlich gehandhabt. Bei Daimler waren die Hinweise ausdrücklich erwünscht; bei der Deutschen Bank wurde dies nicht in gleicher Weise gefördert. Das war anfangs bloße Pflichterfüllung. Im Vergleich zur Mitarbeiterzahl gab es vielleicht ein Fünftel der Meldungen wie bei der Daimler AG. Allerdings habe ich bei Daimler auch erlebt, wie ein Finanzvorstand einen Hinweisgeber coram publico als Nestbeschmutzer bezichtigte. Der Konzernvorstand hat damals sehr klug reagiert und nicht den Hinweisgeber, sondern den Finanzvorstand gekündigt. Dies wurde auch im Intranet kommuniziert und war ein klares Signal für die Mitarbeiter.
Dort kam mit dem amerikanischen Monitor Louis Freeh, ein ehemaliger FBI-Direktor unter Bill Clinton und George W. Bush, eine andere Kultur in den Konzern. Grundsätzlich konnten von da an Mitarbeiter Hinweise geben, ohne gleich negative Folgen zu befürchten. Allerdings hatte man als Jurist, der Ermittlungen gegen hochrangige Führungskräfte leitete, dort auch nur noch wenige Freunde.
Das deutsche Hinweisgeberschutzgesetz
Wieso wird die Richtlinie jetzt überhaupt eingeführt? Welche Auswirkungen hat die Übersetzung in das nationale Hinweisgeberschutzgesetz?
Dr. Thomas Altenbach: Die EU-Richtlinie wurde beschlossen, um beispielsweise die Bekämpfung von Geldwäsche großflächig zu gewährleisten oder die Lebensmittel- und Produktsicherheit europaweit zu garantieren. Der Gesetzgeber wollte damit auch die öffentliche Gesundheit, den Umweltschutz und die nukleare Sicherheit sicherstellen.
Seit Dezember 2021 sollen sich Whistleblower* auf sichere Hinweisgebersysteme zur Informationsweitergabe sowohl innerhalb von Unternehmen als auch gegenüber den Behörden verlassen können. Darüber hinaus sollen sie wirksam vor Entlassung, Belästigung oder anderen Formen von Vergeltungsmaßnahmen geschützt sein. 1
Die Umsetzungsfrist der Richtlinie in nationale Gesetze lief bereits im Dezember 2021 ab. Kaum einem EU-Mitgliedsstaat gelang eine fristgerechte Umsetzung in nationales Gesetz. Durch langes Hin und Her verspätete sich die Umsetzung auch in Deutschland um 1,5 Jahre. Seit dem 02. Juli 2023 ist das deutsche Hinweisgeberschutzgesetz nun in Kraft. Seit diesem Stichtag besteht für Unternehmen ab 250 Mitarbeitern die Pflicht zur Einrichtung eines gesetzeskonformen Hinweisgebersystems. Unternehmen mit 50 bis 249 Mitarbeitern hatten eine verlängerte Umsetzungsfrist bis zum 17. Dezember 2023.
Hinweisgebersysteme in Unternehmen
Zusammengefasst: Warum machen Hinweisgebersysteme in Unternehmen Sinn – auch unabhängig von der Richtlinie?
Dr. Thomas Altenbach: Der Schutz von Hinweisgebern und Hinweisgeberinnen war in der EU bis dato nur uneinheitlich geregelt. Die meisten EU-Länder gewähren nur teilweisen Schutz in bestimmten Wirtschaftszweigen oder für gewisse Kategorien von Arbeitnehmern.2
Durch die Einführung eines anonymisierten Hinweisgebersystems wird dieser Schutz allen Mitarbeitern eines Unternehmens, unabhängig von deren Status, Betriebszugehörigkeit oder Branche, ermöglicht. Das Gleiche gilt auch für die Geschäftspartner* eines Unternehmens oder einer Behörde. Hinweisgebersysteme werden zukünftig dafür sorgen, dass niemand unter persönlichen oder beruflichen Nachteilen leiden wird, wenn er oder sie einen berechtigten Hinweis auf einen oder mehrere Verstöße innerhalb eines Unternehmens, eines Partnerunternehmens oder einer Behörde gibt. Damit wird der persönliche Schaden der Hinweisgeber sowie der wirtschaftliche und reputationsbezogene Schaden des betroffenen Unternehmens abgewendet.
Laden Sie sich als nächsten Schritt unseren Leitfaden „Zur Umsetzung des Hinweisgeberschutzgesetzes in Ihrem Unternehmen“ herunter. Oder kontaktieren Sie einen unserer Experten für ein persönliches Gespräch.
(* Die in diesem Artikel verwendete männliche Form bezieht sich auf alle Personen, gleich welchen Geschlechts.)
1. https://ec.europa.eu/germany/news/whistleblower20191216_de
2. ebenda