Vertrauen schaffen: Hinweisgebersysteme als Kernelement der Speak Up Kultur
2019 hat Pia Michel gemeinsam mit Dr. Thomas Altenbach und Maraja Fistanic das Unternehmen LegalTegrity gegründet. Das Unternehmen bietet ein digitales Hinweisgebersystem für mittelständische Unternehmen an. Zuvor hat Frau Michel als Beraterin viele Unternehmen von innen gesehen und dabei das ganze Spektrum unterschiedlicher Unternehmenskulturen und ihre Vor- und Nachteile erlebt: von Offenheit- bis Angstkultur. Aufgrund Ihrer Erfahrung ist sie davon überzeugt, dass Hinweisgebersysteme ein relevantes Instrument zur Förderung von Speak Up Kultur in Unternehmen sind.
Was ist eine Speak Up Kultur?
Können Sie uns zu Beginn erklären, was man eigentlich unter Speak Up Kultur versteht?
Pia Michel: Unter Speak Up Kultur versteht man, dass Mitarbeitende sensible Themen, aber auch Ideen oder Anregungen offen ansprechen. Dies ist dann möglich, wenn sie sich sicher fühlen, keine negativen Konsequenzen befürchten zu müssen. Dieses subjektive Gefühl wird psychologische Sicherheit genannt. Die Voraussetzung für dieses Gefühl ist Vertrauen in Kollegen und Vorgesetzte sowie in das Unternehmen als solches. Bestenfalls wird dies vom Unternehmen sogar ausdrücklich gewünscht und gefördert.
Relevanz der Speak Up Kultur für Unternehmen
Frau Michel, warum sollten sich Unternehmen mit dem Thema Speak Up Kultur beschäftigen?
Pia Michel: Vertrauen baut sich sehr langsam auf und kann sehr schnell zerstört werden. Als Unternehmensberaterin habe ich nur sehr wenige Teams erlebt, in denen echtes Vertrauen und eine gute Speak Up Kultur bestand. Sie scheitert meist an Einzelpersonen mit großem Ego, die nur ihre eigenen Interessen verfolgen. Diese Menschen gibt es leider in fast jedem Unternehmen.
Der aktuelle Arbeitsmarkt bietet insbesondere hochqualifizierten Mitarbeitenden eine große Auswahl: wenn sie mit den Bedingungen bei ihrem jetzigen Arbeitgeber nicht zufrieden sind, finden sie schnell einen neuen Job bei einem neuen Arbeitgeber. Manche Unternehmen tendieren deshalb vorsichtshalber dazu, keine unangenehmen Themen anzusprechen und selbst inakzeptables Fehlverhalten zu tolerieren. Dieser Schuss geht jedoch schnell nach hinten los.
Eine „perfekte“ Speak Up Kultur im gesamten Unternehmen gibt es nicht. Das halte ich für eine Illusion. Ein Unternehmen kann jedoch sehr vielfältig dazu beitragen, eine Speak Up Kultur kontinuierlich zu fördern.
Unternehmen profitieren von einer solchen Vertrauenskultur, da…
- … sie somit frühzeitig von relevanten Entwicklungen erfahren.
- … ihre Mitarbeitenden mitdenken und Verbesserungsvorschläge einbringen.
- … ihre Mitarbeitenden sich emotional an das Unternehmen gebunden fühlen.
Wie äußert es sich, wenn ein Unternehmen keine Speak Up Kultur hat?
Pia Michel: Ohne das subjektive Gefühl der psychologischen Sicherheit halten sich Mitarbeitende mit Äußerungen zurück, die nicht mit der als gängig empfundenen Meinung übereinstimmen. Im schlimmsten Fall hat ein Unternehmen eine Angst-Kultur mit „Ja-Sagern“. Mitarbeitende wollen in einer solchen Kultur in erster Linie unauffällig sein. Es gibt keine kontroversen Diskussionen, Mitarbeitende erzählen möglichst wenig über sich selbst und gehen keine Risiken ein: Dienst nach Vorschrift.
Untersuchungen von Gallup belegen, dass sich diese Haltung in hohen Fehlzeiten und niedriger Produktivität auswirkt. Der aktuelle Gallup Engagement Index zeigt, dass jeder dritte Mitarbeiter in den vergangenen zwölf Monaten gegenüber seinem Vorgesetzten mindestens einmal sogar schwere Bedenken nicht geäußert hat. Von den Mitarbeitern ohne emotionale Bindung schwieg sogar fast jeder Zweite (45 Prozent).
Frau Michel, könnten Sie einmal ein konkretes Beispiel bringen?
Pia Michel: Stellen Sie sich folgendes Szenario vor: Sie sind Führungskraft und stellen fest, dass im Unternehmen sehr viel Material verschwindet. Zu viel. Sie verhandeln mit dem Betriebsrat, um an einer Stelle temporär eine Kamera anbringen zu dürfen und können tatsächlich die Schuldigen überführen. Sie finden heraus, dass es sich um systematischen Diebstahl handelt. Dann müssen Sie feststellen, dass Sie die einzige Person waren, die nichts davon wusste. Alle Mitarbeitenden wussten Bescheid. Aber keiner hat sich getraut, Ihnen etwas zu sagen, weil man nicht wusste, wie Sie damit umgehen würden. Klingt unrealistisch? Einer unserer Kunden hat das genau so erlebt und war wirklich frustriert.
Es geht dabei aber nicht nur um systematisch geplante und vorsätzliche Straftaten. Eine fehlende Speak Up Kultur birgt das Risiko von passivem Widerstand. Im Laufe der Zeit entwickelt dieser eine negative, unkalkulierbare Eigendynamik. Am Anfang sind es meist nur Kleinigkeiten, wie „mal blau machen“ oder „Büromaterial mitgehen lassen“. Doch genauso wie der systematische Diebstahl bei unserem Kunden, kann eine solche „Es interessiert eh keinen, was ich sage oder denke“-Haltung zur Konsequenz haben, dass das Unternehmen in den Schlagzeilen landet. Mindestens ebenso riskant ist die demotivierende Wirkung, die dieses nicht sanktionierte Verhalten auf die anderen Kollegen hat.
Ist Unternehmen dieser Zusammenhang bewusst?
Pia Michel: Die Kultur in einem Unternehmen wird wesentlich durch die Menschen geprägt, die in dem Unternehmen arbeiten. So kann sich die Unternehmenskultur sogar je nach Bereich und der dort arbeitenden Menschen unterscheiden. Die meisten Unternehmer gehen davon aus, dass bei Ihnen alles rund läuft: das Klima ist gut, die Mitarbeitenden sprechen alles offen an und sie sind nicht von Gesetzesverstößen betroffen.
Bei der Einschätzung der Kultur greift ein interessantes Phänomen: Die Gallup-Studien untersuchen zwar nicht primär das Thema Speak Up Kultur, zeigen aber sehr deutlich, dass es in der Wahrnehmung der Kultur je nach Befragtenkreis große Diskrepanzen gibt. Es ist z.B. rein rechnerisch nicht möglich, dass 69 % der Arbeitnehmer angeben, dass sie mindestens einmal einen schlechten Vorgesetzten hatten, sich zugleich 97 % der Vorgesetzten für gute Führungskräfte halten. In der Konsequenz kann man davon ausgehen, dass eine Geschäftsführung in der Regel kaum objektiv wahrnimmt, welche Kultur im Unternehmen vorherrscht.
Einführung einer Speak Up Kultur im Unternehmen
Wie kann man als Unternehmer erfolgreich eine Speak Up Kultur im Unternehmen etablieren?
Pia Michel: Auf den ersten Blick scheint es einfach, eine Speak Up Kultur zu etablieren. Die Realität sieht jedoch anders aus: Mitarbeitende haben unterschiedliche, manchmal widersprüchliche Ziele und Interessen, es entstehen Abhängigkeiten und private Themen mischen sich mit beruflichen. Folglich sind Mitarbeitende tendenziell eher vorsichtig als offen. Vertrauen lässt sich nicht vorschreiben. Eine Speak Up Kultur entwickelt sich nur dann, wenn Mitarbeitende immer wieder positive Erfahrungen machen, beispielsweise: Ein Mitarbeitender weist auf einen Fehler in einem Prozess hin und macht Änderungsvorschläge. Geht der Vorgesetzte unabhängig von der Qualität des Vorschlags konstruktiv mit dem Vorschlag um, wird die Erfahrung positiv bewertet und erzeugt ein Gefühl der Sicherheit. Kritische Themen, also Gesetzesverstöße, wie beispielsweise Diebstahl oder Korruption, anzusprechen, erfordert bei Mitarbeitenden ein sehr hohes Maß an gefühlter Sicherheit und die Überzeugung, dass eine Meldung keine Nachteile mit sich zieht.
Welche ersten Schritte empfehlen Sie zur Einführung einer Speak Up Kultur?
Pia Michel: Die Basis einer funktionierenden Speak Up Kultur ist meiner Erfahrung nach, die Ermächtigung aller Führungskräfte und ihre Sensibilisierung für die Relevanz ihres Verhaltens. Das Risiko für falsches Verhalten bei kritischen Themen steigt schließlich nicht nur für Mitarbeitende, sondern auch für Führungskräfte. Daher will der Umgang damit gelernt sein. Schulungen sollten Führungskräfte z.B. befähigen, aktiv zuzuhören, konstruktiv Kritik zu äußern, insbesondere aber auch Feedback und Informationen zu unangenehmen Themen professionell und wertschätzend aufnehmen zu können. Diese Kompetenzen tragen dazu bei, dass Mitarbeitende ihre Führungskräfte als vertrauenswürdige Ansprechpartner erleben und als Vorbilder wahrnehmen.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Ernennung neutraler Vertrauenspersonen im Unternehmen. An diese Personen können sich Mitarbeitende wenden, wenn sie Probleme mit ihren Vorgesetzten haben oder unsicher sind, ob diese angemessen auf ihre Anliegen reagieren werden. Solche Vertrauenspersonen könnten z.B. Ombudspersonen, Mitglieder der Personalabteilung, des Betriebsrates oder ein Compliance-Beauftragter sein.
Manche Menschen bevorzugen bei sehr kritischen Themen nicht in den persönlichen Kontakt zu treten. In diesem Fall ist ein Hinweisgebersystem der ideale Kommunikationskanal. Mitarbeitende sollten über die verschiedenen, angebotenen Kommunikationskanäle informiert und motiviert werden, diese bei Bedarf zu nutzen.
Was gehört noch zur strategischen Einführung einer Speak Up Kultur im Unternehmen? Wie kann man sie stärken?
Pia Michel: Um herauszufinden, wie Ihre eigenen Mitarbeiter die Unternehmenskultur empfinden, können Sie eine anonyme Mitarbeiterbefragung durchführen. Vertrauensbildend wirkt, wenn die Ergebnisse auf jeden Fall kommuniziert werden, auch wenn sie nicht so „rosig“ ausfallen, wie das Unternehmen es sich gewünscht hätte. Auf dieser Basis kann passend zur Unternehmenssituation eine Strategie entwickelt und ein mehrdimensionaler Maßnahmenkatalog zur Umsetzung definiert werden. Entscheidend ist, dass das Unternehmen relevante Botschaften über unterschiedliche Kommunikationskanäle immer wieder transportiert und erlebbar macht. Ich habe in meiner langjährigen Beratungserfahrung erlebt, dass es den meisten Unternehmen schwerfällt, zu akzeptieren, dass ein Kulturwandel ein kontinuierlicher Prozess ist und nicht über Nacht eintreten kann.
Hinweisgebersystem und Unternehmenskultur
Frau Michel, Sie haben auf Hinweisgebersysteme als Instrument der Speak Up Kultur hingewiesen. Warum sind gerade Hinweisgebersysteme so wichtig?
Pia Michel: Ein Hinweisgebersystem, insbesondere wenn es Anonymität garantiert, ist ein niedrigschwelliger Kommunikationskanal für sehr kritische Themen, wie z.B. Gesetzesverstöße. Mitarbeitende sollten nicht damit hadern müssen, ob eine Meldung für sie möglicherweise ein persönliches oder berufliches Risiko darstellt. Das Ziel ist, möglichst schnell und unkompliziert einen Hinweis abgeben zu können.
Gesetzesverstöße gehören nun einmal zur Realität – in jedem Unternehmen. Bedienen wir uns konkreter Zahlen: statistisch gesehen stiehlt jeder vierte Mitarbeiter, die meisten davon sogar mehrfach. Und die sollen alle in anderen Unternehmen sein, aber nicht in Ihrem?
Verstöße gegen Datenschutz-, IT-Sicherheit-, Qualitätsrichtlinien, Diebstahl, Preisabsprachen, Vorteilsnahme – die Liste ist lang. Solche Gesetzesverstöße werden von den Mitarbeitenden wahrgenommen und als nicht richtig empfunden, aber nur ganz selten direkt angesprochen. Doch über ein anonymes Hinweisgebersystem könnten Meldende diese Verstöße aufzeigen, ohne persönliches Risiko.
Es geht nicht nur um den Schutz von Whistleblowern. Ein weiterer wichtiger Aspekt, der oft vernachlässigt wird, ist die Frage der Haftung. Wenn Sie als Geschäftsführung nicht beweisen können, dass Sie alles unternommen haben, um Gesetzesverstöße zu verhindern, haften Sie im Ernstfall persönlich. Hinzu kommt der enorme Vertrauensverlust bei Kunden und sonstigen Stakeholdern, wenn ein solcher Verstoß in der Presse landet und zu einem medienwirksamen Skandal wird. Dementsprechend ist es aus Unternehmensperspektive sinnvoller, vorzubeugen, als darauf zu vertrauen, dass „schon nichts schiefgehen“ wird.
Wie sollte die Einführung von Hinweisgebersystemen im Zusammenhang mit der Unternehmenskultur umgesetzt werden?
Pia Michel: Es reicht nicht, „einfach“ ein System einzuführen. Die erfolgreiche Umsetzung bedarf einiger bewusst geplanter Schritte. Empfehlenswert ist – sofern noch nicht vorhanden – die Erstellung eines Verhaltenskodex, in dem definiert wird, wie sich Mitarbeitende verhalten sollen. Ich habe einige Kodizes gesehen, die so komplex und lang waren, dass sie ganz sicher nicht gelesen und schon gar nicht verstanden werden. Daher empfehle ich, bei der Wortwahl und Gestaltung darauf zu achten, dass sie möglichst einfach formuliert und auf das Minimum reduziert werden.
Für die erfolgreiche Umsetzung eines Hinweisgebersystems empfiehlt sich eine Strategie, die die eingebundenen Personen sowie die Zeitpunkte berücksichtigt.
- Wer wird wann wie eingebunden?
- Durch wen erfolgt die Kommunikation?
- Wie, wann und wie häufig findet die Kommunikation statt?
Wir empfehlen aufgrund unserer Praxiserfahrung, Stakeholder wie Betriebsrat und Datenschutzbeauftragte frühzeitig miteinzubinden. Einerseits stellen Sie dadurch sicher, Datenschutzauflagen vollständig zu berücksichtigen, andererseits sorgen Sie schon frühzeitig für Akzeptanz.
Das Thema Whistleblowing leidet leider in der Regel unter einem eher schlechten Ruf, Stichwort „Denunziantentum“. Umso wichtiger ist es, diesen Vorurteilen von Beginn an zu begegnen und sie zu entkräften. Dazu gehört auch, die Einführung eines Hinweisgebersystems über möglichst viele Kanäle an die Mitarbeitenden zu kommunizieren. Hierzu bieten sich beispielsweise das schwarze Brett, das Intranet, eine Mitteilung der Geschäftsführung sowie das Thematisieren in der Regelkommunikation und auch direkt bei der Einstellung neuer Mitarbeitender an. Als vertrauensbildende Maßnahme ist es wichtig, darüber aufzuklären, wie das Hinweisgebersystem funktioniert, wer die Hinweise empfängt und wie der Prozess abläuft, wenn ein Hinweis über das System eingereicht wird. Um zu verhindern, allgemeine Beschwerden über das System zu erhalten, ist eine möglichst klare Abgrenzung empfehlenswert:
- Welche Hinweise sollen Mitarbeitende über das System abgeben?
- Welche Themen können zum Beispiel über den Kundendienst oder andere Beschwerdemanagement-Tools adressiert werden?
Was sollte noch berücksichtigt werden, damit sich ein Hinweisgebersystem positiv auf die Speak Up Kultur auswirkt?
Pia Michel: Die Wirkung hängt sehr stark davon ab, wie insbesondere die Geschäftsführung und das Top-Management über das Hinweisgebersystem und Hinweisgeber spricht. Eine Sensibilisierung und Schulung dieser verantwortlichen Personen ist für den positiven Impact also quasi Voraussetzung. Ich gebe Ihnen einmal zwei Beispiele:
Unternehmen sind laut EU-Whistleblowing-Richtlinie dazu verpflichtet, den Eingang eines Hinweises innerhalb von 7 Tagen zu bestätigen. Dies kann neutral mit einem Satz geschehen wie „Hiermit bestätigen wir den Eingang Ihres Hinweises.“ oder positiv konnotiert mit folgender Formulierung: „Vielen Dank für Ihren Hinweis. Wir werden Ihren Hinweis untersuchen und würden uns freuen, wenn Sie sich in den nächsten 2 Wochen noch einmal in das System einloggen. So können wir Ihnen gegebenenfalls weiterführende Fragen zu Ihrer Meldung stellen.“
Ein gutes Beispiel für die positive Bewertung der Meldungen von Hinweisgebern ereignete sich vor einigen Jahren bei einem internationalen Automobilkonzern, bei dem über einen Hinweisgeber hohe Inventurdifferenzen aufgedeckt wurden. Der Hinweisgeber hatte sich im Laufe der Ermittlung zu erkennen gegeben. Der CFO des betroffenen Bereichs kritisierte den Hinweisgeber daraufhin vor allen Kollegen und forderte seine Mitarbeiter dazu auf, zukünftig keine Hinweise mehr über das Hinweisgebersystem abzugeben, sondern ihn direkt auf Missstände anzusprechen. Diese Haltung entsprach nicht den Erwartungen des Konzerns an seine Führungspersönlichkeiten. Als Konsequenz kündigten sie den CFO fristlos. Diese Kündigung wurde vor dem Arbeitsgericht bestätigt. Das war in dem skandalgebeutelten Unternehmen sehr schnell unternehmensweit bekannt.
Um positiv auf die Speak Up Kultur zu wirken, müssen Mitarbeiter darauf vertrauen können, dass ihre Meldung wirklich anonym ist. Das ist je nach System nicht selbstverständlich. Häufig wird befürchtet: Gibt es nicht immer einen pfiffigen IT-ler, der herausfinden kann, von wem der Hinweis stammt? Ich habe einmal in einem Unternehmen gearbeitet, in dem Mitarbeitende mit einer auf dem Firmenhandy installierten App anonym zu bestimmten Themen befragt wurden. Es hieß, die App garantiere Anonymität. Im Nachhinein stellte sich heraus, dass die Umfrageergebnisse nach Alter, Unternehmensbereich und Standort gefiltert werden konnten. Das hatte große Auswirkungen auf das Vertrauen in Versprechungen der Geschäftsführung.
Vorteile digitaler Lösungen
Sie haben digitale Hinweisgebersysteme besonders hervorgehoben. Welche Vorteile haben digitale Hinweisgebersysteme für Unternehmen und wie stärken sie die Speak Up Kultur?
Pia Michel: Viele überlegen im ersten Schritt, ob sie nicht selbst eine einfache, schnelle Lösung als Hinweisgebersystem stricken können. Ein E-Mail-Postfach, eine Telefonnummer oder ein interner Ombudsmann scheinen naheliegend. Die seit Dezember 2021 geltende EU-Hinweisgeber-Richtlinie stellt jedoch sehr klare Anforderungen an Hinweisgeberschutz und den damit zusammenhängenden Datenschutz. Diese Anforderungen erfüllen Unternehmen am sichersten und einfachsten mit einer digitalen Lösung.
Im Gegensatz zu selbstgestrickten Lösungen garantieren die meisten digitalen Lösungen der meldenden Person vollständige Anonymität. Handelt es sich dabei um eine Software-as-a-Service-Lösung, die völlig unabhängig von der Unternehmens-IT-Infrastruktur in der Cloud liegt, schafft dies zusätzliches Vertrauen. Gerade für kleinere Unternehmen kann es vorteilhaft sein, eine externe Stelle (beispielsweise eine Rechtsanwaltskanzlei oder Ombudsmann) als Hinweisempfänger einzuschalten. Dies signalisiert Mitarbeitenden, dass ihr Wunsch nach Anonymität respektiert wird, Hinweisen ernsthaft nachgegangen wird und diese nicht unter den Tisch gekehrt werden.
Digitale Lösungen sind von überall und jederzeit verfügbar. Viele Mitarbeitende bevorzugen es, ihre Hinweise abends oder am Wochenende von zu Hause abzugeben. Also immer dann, wenn sie ungestört sind und sich sicher oder unbeobachtet fühlen. Sie können von Kollegen oder Vorgesetzten bei der Hinweisabgabe weder beobachtet noch unterbrochen werden. Der Zugang zum System kann z.B. über einen QR-Code oder einen Link erfolgen. Unternehmen können ihren Mitarbeitenden zusätzlich empfehlen, ihre privaten Handys zur Meldung zu nutzen.
Die EU-Richtlinie schreibt außerdem die Möglichkeit telefonischer Meldungen vor. Auch hier kann die Anonymität garantiert werden, wenn diese Meldungen nicht von einer internen Stelle, sondern zum Beispiel vom Betreiber des Hinweisgebersystems aufgenommen und in das System eingegeben werden. Selbstverständlich muss der Betreiber die Datenschutzauflagen erfüllen und dies auch nachweisen können.
Ein unschlagbarer Vorteil eines digitalen Hinweisgebersystems ist die Möglichkeit, mit dem Hinweisgeber unter Wahrung der Anonymität zu kommunizieren. Das erleichtert die Bearbeitung eines Hinweises ungemein, da dem Hinweisempfänger Rückfragen gestellt werden können. Ein digitales System vereinfacht weiterhin die rechtskonforme Einhaltung von Fristen.
Die Nutzung eines digitalen Hinweisgebersystems sollte so einfach und intuitiv sein, dass weder Hinweisgeber noch Hinweisempfänger eine Schulung für die Anwendung benötigen.
Meine Empfehlung sind cloudbasierte Hinweisgeberlösungen, die in Deutschland gehostet sind: Das Hosting durch einen europäischen Cloud-Dienstleister, wie beispielsweise die Telekom, stellt die Wahrung höchster IT-Sicherheits- und Datenschutzanforderungen sicher. Einige dieser SaaS-Lösungen bedürfen keiner IT-Implementierung. Sie sind ressourcenschonend und kosteneffizient, einfach zu bedienen und immer erreichbar. Mit diesen Vorteilen sind sie unschlagbar im Vergleich zu analogen Lösungen und zahlen sehr positiv auf eine Speak Up Kultur ein.
Fazit zum positiven Einfluss von Hinweisgebersystemen auf Ihre Unternehmenskultur
Frau Michel, könnten Sie uns noch einmal die wichtigsten Aspekte einer Speak Up Kultur zusammenfassen?
Pia Michel: Mitarbeitende beschäftigen sich tagtäglich mit den Prozessen im Unternehmen und sie wissen, wo Optimierungsbedarf besteht. Sie haben in Ihrem Unternehmen eine Speak Up Kultur, wenn…
- Mitarbeitende Verbesserungsvorschläge für Schwachstellen oder Ideen zur Weiterentwicklung und Marktanpassung auch schon in einem sehr frühen Stadium ansprechen.
- Sie Vorschläge unabhängig von der Position des Vorschlagenden ernst nehmen und konstruktiv auf Relevanz überprüfen.
- Sie anonyme Kommunikationskanäle wie Hinweisgebersysteme anbieten.
Mit letzterem können Sie auch das Risiko von Schäden durch Gesetzesverstöße und Skandale stark reduzieren.
Das Zusammenspiel dieser Verhaltensweisen und Maßnahmen kann Ihre positive Unternehmensentwicklung signifikant beschleunigen. Eine gelebte Speak Up Kultur ist ein wichtiges Signal an Ihre Mitarbeitenden, dass sich ihr Unternehmen für ihre Meinungen und Ideen interessiert und zugleich Wert auf die Einhaltung von Richtlinien und Gesetzen legt. Damit binden Sie wertvolle und vor allem werteorientierte Mitarbeitende an Ihr Unternehmen. Erfahren Mitarbeitende kein echtes Interesse, werden Sie sie schnell verlieren oder sie ziehen sich zurück und werden zu risikoaversen „Ja-Sagern“. Die Bedeutung der Wertschätzung eines Mitarbeitenden im Unternehmen kann ich daher nicht genug betonen.
Erfahren Sie in unserem Leitfaden „Umsetzung des Hinweisgeberschutzgesetzes in Ihrem Unternehmen“ mehr zur Einführung eines Hinweisgebersystems. Wenn Sie noch Fragen haben, kontaktieren Sie gerne einen unserer Experten für ein persönliches Gespräch.